Erotische Träume

Was verraten unsere Träume über geheime erotische Wünsche?
Eine Entdeckungsreise zu den Chiffren der Nacht
Nacht für Nacht passiert es wieder. Der Vorhang fällt, die Vorstellung beginnt: Mal sind es flüchtige Sequenzen, mal opulente Gefühlsdramen, die wir sehen und zugleich miterleben. Wir spüren Kälte und Hitze, Gänsehaut und Pulsschlag. Wir empfinden Angst, Aufregung oder tiefe Glücksgefühle. Manchmal erzählen unsere Träume auch Geschichten, die uns verwirren, nicht mehr loslassen. Von fremden Händen, die uns hart anpacken, innigen Küssen, die uns Schauer über die Haut jagen, oder lustvollen Spielen von Macht und Unterwerfung, die uns im realen Leben fremd sind.

Oder doch nicht? Haben diese nächtlichen Fantasiereisen überhaupt einen Sinn? Für Dr. Michael Schredl vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim überhaupt keine Frage: „Wer sich mit seinen Träumen auseinander setzt, kann sein Leben besser meistern.“ Längst sind Träume zum seriösen Forschungsfeld von Psychologen und Schlafexperten geworden, das mit den mystisch-vernebelten Theorien von Esoterikern und New-Age-Spiritisten wenig zu tun hat.

Suche nach dem Schlüssel
Wollte Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, vor mehr als hundert Jahren "verdrängte infantile Sexualwünsche“ als häufigste und stärkste Triebkraft für die Bildung von Träumen ansehen, sind die Forscher heute von dieser Auffassung meilenweit entfernt.

Träume werden jetzt vor allem als individueller Ausdruck des kreativen Potenzials unseres Gehirns gewertet. Erst recht, seit der britische Neuropsychologe Dr. Mark Solms herausfand, dass beim Träumen vor allem das Hirn areal beansprucht wird, das für Wünsche und Bedürfnisse (Hunger, Durst, Sex) zuständig ist.

„Trauminhalte spiegeln wider, was man tagsüber macht, und zwar nicht nur das tatsächlich Erlebte, sondern auch die Gedanken und Fantasien, die uns dabei umtreiben, sagt Schredl. Jeder Mensch träumt jede Nacht, ob er sich daran erinnert oder nicht. Besonders gut ist die Möglichkeit, sich Trauminhalte zu vergegenwärtigen, wenn man sich in einer der so genannten REM („Rapid Eye Movement“)-Schlafphasen wecken lässt.

Insgesamt verbringen wir zwanzig Prozent des gesamten Schlafs mit farbigen Filmen, unter normalen Umständen bleibt von denen aber nur rund ein Prozent im Gedächtnis hängen, das sind etwa ein bis zwei Träume pro Woche. Der Anteil der Sexträume ist dabei relativ gering: neun Prozent bei den Männern, zwei Prozent bei den Frauen. Erklärung für den Unterschied: Männer beschäftigen sich tagsüber in Gedanken häufiger mit Sex als Frauen. Anders ausgedrückt: Wer viel über Sex fantasiert, erlebt auch nachts öfter erotische Stelldicheins.

Für Dr. Schredl eine Bestätigung der „Kontinuitätstheorie“: Nachts kommt wieder, was uns untertags beschäftigt. So geht es im Traum nicht um die Aufarbeitung verdrängter Triebe, sondern um die Darstellung durchaus realer Wünsche und Konflikte. Und noch viel mehr: „Träume können sogar Lösungen vorgeben“, sagt Dr. Schredl. Für unsere Beziehungen, unseren Sex, überhaupt das ganze Leben. Doch wie lassen sich die Chiffren der Nacht entschlüsseln?
Arbeiten mit dem Traum
Der Stoff der Träume wird aus Erlebnissen, Eindrücken, Gefühlen und Erinnerungen fein gesponnen, verdichtet, vermengt und in neue Zusammenhänge gestellt. Eine sehr subjektive Angelegenheit. Was das nächtliche Heimkino tatsächlich zu bedeuten hat, weiß nur der Träumende beziehungsweise ein Analytiker, der sich sehr genau mit der entsprechenden Person befasst hat.

Kein Handbuch dieser Welt kann wissen, welche Emotionen uns momentan bewegen. Durch Arbeiten mit dem Traum können wir jedoch erkennen, wohin uns die verschlungenen Pfade unserer nächtlichen Leinwand führen wollen. Dr. Schredl empfiehlt drei Schritte zur Wahrheitsfindung:

1. Betrachten der Gefühlsebene: Was empfinde ich gegenüber den Personen im Traum? Welche Gefühle werden durch die Traumbilder wachgerufen?

2. Abgleich mit der Realität: Was empfinde ich gegenüber den Personen und Dingen, die im Traum aufgetreten sind, im Wachleben? Zum Beispiel Hund (Hundebesitzer oder Angst oder ...).

3. Erkennen eines Musters: Welche wiederkehrenden Verhaltensweisen gibt es? Zu welchem Ergebnis führen sie?

Taucht zum Beispiel immer das Muster auf: „Sobald mich jemand berühren will, laufe ich weg“, existieren im Wachzustand vermutlich ähnliche Handlungsmuster. Erst die Kombination aus Traum und Realität ergibt einen Sinn, da der Traum die Erlebnisse im Wachzustand spiegelt. So kann der Traum auf festgefahrene Verhaltensstrukturen hinweisen und zugleich den Anlass liefern, genau diese Strukturen zu durchbrechen.

Wichtig bei der Interpretation: Die Gefühlsebene sollte separat von den Bildern betrachtet werden, denn „das Gehirn integriert ein bestimmtes Gefühl in die Handlung des Traums und besetzt es mit Bildern“, so die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Andrea Rock. Ein Beispiel: Das hocherotische Traumabenteuer mit einer Person, die im wahren Leben sexuell absolut tabu ist (zum Beispiel Schwager, Kollege, beste Freundin), kann viele verschiedene Erklärungen haben: Zum einen ist es möglich, dass unerfüllte Wünsche in der Partnerschaft existieren, die man stellvertretend mit einer anderen Person auslebt, zum anderen wird vielleicht nur die Attraktivität der betreffenden Person weitergesponnen. Ebenfalls möglich: Im Traum spiegelt sich die Beziehungsintensität wider - Nähe, Sympathie, Wärme werden körperlich übersetzt. „Nicht jeder sexuelle Traum hat auch eine sexuelle Bedeutung“, sagt Dr. Schredl. Wer im Traum hemmungslose Sexabenteuer erlebt, ist noch lange kein potenzieller Fremdgänger.

Jeder Vierte kann die nächtliche Handlung seiner Träume beeinflussen. Beim so genannten luziden Träumen ist man sich bewusst, dass man gerade träumt - man ist Regisseur und Darsteller zugleich, kann das Geschehen lenken. Sogar neue Fähigkeiten sind erlernbar - bei Sportlern wurde dieser Effekt durch Studien belegt. Ebenso können sich Türen zu neuen sexuellen Welten öffnen. Wer kein Meister des Träumens ist, kann mit dem „Realitäts-Check“ üben: Dazu stelle man sich täglich fünf- bis zehnmal die Frage, ob man wacht oder träumt. Dann integriert sich diese Gewohnheit allmählich in die Träume und sorgt dafür, dass man sie steuern kann. Bühne frei …
Im Büro zum Sex gezwungen
Fallbeispiel 1:
„Das Büro ist leer. Alle sind schon weg, nur ich sortiere noch einige Unterlagen. Plötzlich kommt ein Kollege herein, er presst sich an mich, zwingt mich zum Sex. Nach außen hin will ich nicht, innerlich aber unbedingt. Ich wehre mich zwar, aber nur zu 80 Prozent. Es fühlte sich sehr prickelnd an. Nach diesem Traum wurde ich erst aufmerksam auf ihn. Erst schämte ich mich, doch nach einer Woche wurde unser Miteinander lockerer, meine Berührungsangst ihm gegenüber verschwand, ich wurde selbstsicherer.“ Alexandra (31) aus Wien

Bewertung Dr. Michael Schredl:
Alexandra sollte ihre sexuelle Einstellung kritisch hinterfragen. Ihr Traum spiegelt ein längst überholtes Handlungsschema wider, das in vielen Köpfen, Geschichten, Filmen zu finden ist: Der Mann packt zu, die Frau lässt es einfach geschehen. Sie könnte sich fragen, ob sie im Wachleben ebenso handelt, sexuelle Dinge einfach geschehen lässt. Wenn ja, kann der Traum ein Anstoß sein, damit sie lernt, aktiver auf Männer zuzugehen. Insgesamt ist das ein sehr hilfreicher Traum, in dem auch Hinweise auf ihre aktuelle Arbeitssituation versteckt sind.

Gefesselt und gedemütigt
Fallbeispiel 2:
„Es ist ein Traum, den ich seit ein paar Jahren immer wieder erlebe: Ich liege in einem Kerker, gefesselt. Den Grund dafür kenne ich nicht - ähnlich wie bei dem Grafen von Monte Christo. Ab und zu kommt eine wunderschöne Frau herein, sie führt mich in prächtige Gemächer. Dort liegen viele spärlich bekleidete oder nackte Frauen herum, die ich alle befriedigen soll. Das tue ich auch, so gut ich kann. Dabei bin ich sehr erregt, empfinde aber auch große Angst, weil es ungewiss ist, was irgendwann mit mir geschieht.“
Sebastian (35) aus Innsbruck

Bewertung Dr. Michael Schredl:
Die Atmosphäre ist zunächst sehr negativ. Der Kerker, die Gefangenschaft, die Ungewissheit. Insgesamt ist der Mann sehr passiv, er lässt Dinge mit sich wehrlos geschehen. Die Frauen bestimmen, wann er Sex haben darf und wann nicht. Hier sollte er ansetzen und sich fragen, ob es Parallelen zum Wachzustand gibt. Ist er dort auch passiv? Er sollte sich fragen, wie es ist, die Geschehnisse selbst zu steuern. Das könnte er mit seiner Partnerin einmal ausprobieren. Die zweite Ebene ist die Gefühlsebene. Sebastian empfindet das passive Erleben als sehr angenehm. Er sollte sich fragen, ob sein Bedürfnis nach passivem Genießen, gerade im Bereich Sexualität, im Wachleben ausreichend berücksichtigt wird. Es gibt also zwei Ebenen: die Angst und das positive Empfinden. Er sollte herausfinden, welche die größere Bedeutung für ihn hat.

Er betrügt mich vor meinen Augen
Fallbeispiel 3:
„Zu einer Zeit, als ich herausgefunden hatte, dass mein Freund mich betrügt, träumte ich Folgendes: Wir gingen im Park spazieren. Plötzlich verschwand er. Ich suchte ihn lange und mit wachsender Verzweiflung. Dann stieß ich auf ein großes, flaches Haus. Ich ging durch unzählige Zimmer hindurch. Im hintersten Raum fand ich ihn - mit dieser Frau, mit der er auch in Wirklichkeit eine Affäre hatte. Die beiden taten es vor meinen Augen. Sie saß rittlings auf ihm, und er war völlig hin und weg von ihr. Genau wie ich. Ich stand wie angewurzelt und musste ihnen einfach zuschauen. Es war eine Qual, aber ich war auch zu neugierig auf die Dinge, die sie miteinander anstellten.“
Franziska (26) aus Linz

Bewertung Dr. Michael Schredl:
Bei diesem Traum gibt es extrem wenig zu deuten. Er spiegelt ihre persönliche Situation beinahe eins zu eins wider. Die Suche im Wald ist ihre konkrete Sehnsucht, sie will ihren Freund wieder finden, trotz ihrer emotionalen Verletzung. Die Entfernung der beiden existiert ja auch im realen Leben. Das positive Gefühl beim Beobachten der Geliebten des Mannes kann bedeuten, dass sie sich ebenfalls noch Sex mit ihrem Freund wünscht. Das ist ein echtes Bedürfnis, im Traum wie im Wachzustand. Ihre Neugier ist wenig problematisch auf der nichterotischen Seite. Sie findet die andere Frau vor allem deswegen attraktiv, weil diese erlebt, was sie sich selbst wünscht: den Sex mit diesem Mann. Gleichzeitig wünscht sie sich ähnliche sexuelle Talente, wie die andere Frau sie besitzt. Die kann sie als positive Anregung annehmen.

Verwandte Artikel